Renate Eckert, Bärbel Foerderreuther, Erzählwerkstatt-Leiterin Maritta Henke und Anne Lise Räuker (v.l.n.r.) ließen beim Treffen in der Kursana Residenz Wedel die Erinnerungen an die Schulzeit Revue passieren. ©Kursana

 
07.02.2020

Die Kraft der Erinnerung

Bei der monatlich stattfindenden Erzählwerkstatt in der Kursana Residenz Wedel entdecken Senioren die eigene Lebensgeschichte als Ressource für das Alter.

Auf dem Tisch des Andachtsraumes in der Kursana Residenz Wedel liegt eine abgegriffene Schiefertafel mit Schwämmchen und Griffel, wie sie die drei anwesenden Seniorinnen selbst in ihrer Grundschulzeit nutzten. Die heutige Erzählwerkstatt zum Thema „Schule“ läutet die Ehrenamtliche Maritta Henke mit dem vierten Streich aus Wilhelm Buschs Lausbubengeschichte „Max und Moritz“ über Lehrer Lämpel ein. „Also lautet ein Beschluss, dass der Mensch was lernen muss“, beginnt die 66-jährige Wedelerin den bekannten Text, der die Damen zum Schmunzeln bringt, vorzutragen. Am Ende leitet sie daraus die Leitfragen für das heutige Treffen ab. „Welche besonderen Lehrer aus ihrer Schulzeit fallen Ihnen ein? Haben Sie von ihnen etwas gelernt, was Sie Ihr Leben lang begleitet hat?“

Während die Seniorinnen in Ruhe die inneren Bilder aufsteigen lassen, huscht ein erstes Lächeln über Renate Eckerts Gesicht. Die 84-jährige Bewohnerin der Senioreneinrichtung ist seit der ersten Erzählwerkstatt 2011 regelmäßig bei der Veranstaltung des Wedeler Freiwilligenforums im Haus dabei und hat so bereits zahlreiche Stationen aus der eigenen Biografie Revue passieren lassen. Erinnerungen an den Glauben standen dabei genauso wie die Themen Reisen, Familiengründung, Beruf oder der Umgang mit Krankheit auf dem Programm.

Renate Eckert, die 1941 eingeschult wurde, erinnert sich an ihre Grundschullehrerin, das „kleine, graue Fräulein Winzer, das die Kinder wie eine Mutter liebte“. Sie hält aber auch nicht mit schlimmen Streichen auf dem Gymnasium hinter dem Berg, die die Zeichenlehrerin dazu brachten, weinend den Klassenraum zu verlassen. Die Seniorin wirkt nachdenklich, als sie vom größten Einschnitt in ihrer Schulzeit berichtet: 1953 flog sie in der DDR zusammen mit einigen Mitschülern von der Schule, weil sie als aktive Christen der „Jungen Gemeinde“ regelmäßig Andachten veranstalteten und sich weigerten, in die FDJ einzutreten. „Unter uns Jugendlichen ist durch diesen Ärger ein großer Zusammenhalt entstanden, der sich wie ein roter Faden durch mein Leben zieht“, sagt sie. „Ich habe heute noch aus dieser Zeit fünf Freundinnen, mit denen ich regelmäßig telefoniere. Sie haben mich sogar schon in der Residenz besucht.“

Bärbel Foerderreuther (82), die im zerbombten Düsseldorf eingeschult wurde, erinnert sich vor allem an den Mangel, der nach Kriegsende herrschte: Es fehlte an Lehrern und Schulräumen genauso wie an Büchern und Griffeln. „Mir tat in der Schule immer der Po weh, weil wir uns die Sitze teilen mussten“, sagt sie. Mit behutsamen Fragen leitet Maritta Henke die Seniorin durch ihre Ausbildungszeit, in der sie mit ihrem Talent für naturwissenschaftliche Fächer und dem Interesse an Technik als Frau einen Pionierstatus innehatte. „Beim Maschinenbaubau-Studium war ich allein unter männlichen Studenten“, sagt sie. „Aber ich habe mich durchgekämpft und war fast 40 Jahre als Ingenieurin tätig.“

Anne Lise Räuker (87) erinnert sich daran, dass sie bei den Handarbeiten und im Sportunterricht eine „echte Niete“ war. „Aber beim Werfen war ich die Beste, ich hatte Schmackes“, bekennt die Seniorin, die die höhere Handelsschule in Wilhelmshaven besucht und später Sprachen studiert hat. „Und ich habe schon immer meine Meinung vertreten, auch wenn ich deshalb einmal von einem Lehrer ein halbes Jahr lang nicht drangenommen wurde.“ Genauso wie ihre Mitbewohnerinnen blüht Anne Lise Räuker beim Erzählen auf und ihre Augen strahlen. „Ich habe große Freude an der Erzählwerkstatt, weil ich hier die Emotionen wichtiger Stationen noch einmal durchleben kann“, sagt sie lächelnd. „Dabei spüre ich, dass ich noch lebe und fühle mich nach unseren Treffen wie befreit.“

Auch Maritta Henke, die sich seit 1996 in diversen Projekten zum Thema „Biografiearbeit“ ehrenamtlich engagiert, merkt man die Freude an, gemeinsam mit den Teilnehmerinnen den inneren Reichtum ihres langen Lebens zum Leuchten zu bringen. „Deutschland lag in Schutt und Asche, als diese Generation in ihr Leben startete. Wie viel Kraft haben diese Frauen entwickelt, und was haben sie alles geschafft,“ sagt sie anerkennend. In der Erzählwerkstatt gehe es darum, die positiven Erinnerungen zu verstärken, das Negative stehen zu lassen und im besten Fall seinen Frieden mit dem zu machen, was nicht gelungen ist. „Ich habe oft erlebt, wie sich so das Leben sortiert hat und das Erinnern zu einer wichtigen Kraftquelle im Alter wurde“, sagt sie.

Die Erzählwerkstatt findet an jedem zweiten Montag im Monat von 15.30 – 17.00 Uhr in der Kursana Residenz Wedel, Gorch-Fock-Straße 4 statt. Gäste sind bei der kostenlosen Veranstaltung im Andachtsraum herzlich willkommen.

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